* Magistra im Entstehen
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Zur Geschichte unserer Arbeit (Andreas Version 03 07 2000)

New frontier
Am Anfang war die new frontier. Jana war beim Lesen aktueller Texte russischer Politologen zur Lage in Rußland eine Parallele zu den Phantasien männlicher Cyberspace-Ideologen vom Cyberspace als new frontier aufgefallen. Während der Cyberspace als neuer, zu erschließender Raum imaginiert wird, soll in Rußland der alte Raum ausgestrichen werden, tabula rasa gemacht werden, um Raum für eine neue Entwicklung zu eröffnen. Beide Räume werden als ideale Projektionsfläche konstruiert unter Vernachlässigung dessen, was ich zunächst (in Anschluß an Donna Haraway) als gesellschaftliche Wirklichkeit, d.h. gelebte soziale Beziehungen, bezeichnen würde. Ausgangspunkt waren also zwei Fiktionen: die new frontier und die tabula rasa - und unser Anspruch, diese an der "die gesellschaftlichen Wirklichkeit" zu überprüfen, die sich auch als Fiktion und Konstrukt erweisen wird.

Von "russischem Cyberfeminismus" zu "cyberfeministischen Strategien in Rußland"
Die Verbindung zu Rußland schien uns gegeben, als wir den ersten Text Irina Aristarkhovas in der Hand hielten und im Reader der First Cyberfeminist International weitere Texte von russischen Frauen fanden. Denn daß Frauen einen anderen Blick auf Cyberspace und die Veränderungen in Rußland haben, war eine unserer Vorannahmen. Daß es uns um Frauen gehen sollte, ist wohl vor allem ein Ergebnis unserer eigenen Lebensweise und Auseinandersetzungen um Feminismen, Gender und Queer Theory.
Ein weiterer Ansatzpunkt war die Frage, wie wir selber uns zum Phänomen Cyberspace und Neue Technologien verhalten wollen/können, und welche Möglichkeiten es für eine autonome und feministische Politik gibt.
Als unser Thema formulierten wir zunächst "Cyberfeminismus in Rußland".
Wir lasen also zunächst die Texte der russischen Cyberfeministinnen und parallel Texte zu Cyberfeminismus und Cyberspace überhaupt.
Aus dieser Lektüre ergab sich die Umformulierung des Themas in "Cyberfeministische Strategien in Rußland", da wir feststellten, daß es den Cyberfeminismus nicht gibt, und auch keinen russischen, obwohl uns trotzdem schien, daß bestimmte Spezifika festzustellen sein müssen.
(Hier bekomme ich Schwierigkeiten mit der Ordnung dieses Textes, da sich - analog zu unseren Parallellektüren und den Parallelgesprächen mit FreundInnen - verschiedene Gedankengänge gleichzeitig entwickelten.)
Einerseits gewannen wir Vorstellungen von den verschiedenen Praktiken, entdeckten unsere Sympathien für Ansätze, die Cyberfeminismus "an der Grenze zwischen Innen und Außen des Cyberspace" ansiedeln (vgl. Ursula Biemann) und den Fokus vor allem auf Machtverhältnisse richten (Aristarkhova, Faith Wilding). Unsere Gedanken versuchten wir in Thesen zu formulieren (siehe Küchentisch auf http://userpage.fu-berlin.de/~brat/cyberfemin.html). Wir stellten also alle uns bekannten cyberfeministischen Ansätze nebeneinander, hatten aber auch immer im Blick, daß es uns ja vor allem um die Russinnen geht, und wir einen vergleichenden Blick eher vermeiden wollen. Wir versuchten, uns konzentriert mit ihren Texten auseinanderzusetzen (die Kurzzusammenfassungen sind in unserem Exposé im Anhang nachzulesen). Dabei mußten wir feststellen, daß, während die Aristarkhova einen weiten Raum zum Denken eröffnete, wir den anderen eher mit Unverständnis oder auch Enttäuschung begegneten. Auffällig bei Irina Aktuganova, Alla Mitrofanova und Olja Ljalina war eine eher enthusiastische Einstellung zum Cyberspace, die Verbindung des Cyberspace mit künstlerischer Produktion, die Nichtthematisierung oder Ausblendung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die scheinbare Nichtthematisierung "feministischer" Politik oder Praktiken, die Zusammenarbeit mit Männern. Was bei allen auffiel, war die Metapher des Genusses oder der Freude, des Glückes und Kreativität. Dies waren Ansatzpunkte, denen wir nachgehen konnten. Andererseits spiegelt unser Exposé unseren Anspruch, gewisse Komplexe in unsere Arbeit mit einzubeziehen, auch wenn sie in den russischen Texten nicht auftauchten (oder nur in ihrer Abwesenheit auftauchten). So erklärten wir zu unseren Hauptkategorien Geschlecht, Körper, Arbeit und Politik und griffen auf unsere Ausgangskategorie Raum zurück, mit der wir die anderen vier verweben wollten.
So entstand unser Exposé (siehe Anhang) und eine vorläufige Schwerpunktsetzung.
Der Verlust des Wörtchens "Cyber"
Jana arbeitete an den Komplexen Frauen und Arbeit und Frauen und Technik in Rußland. Andrea bescäftigte sich mit der russischen Frauenbewegung und dem Thema russischer Feminismus.
Doch zuvor entwickelten wir die ersten Vorstellungen für unsere Homepage, die einerseits unsere Arbeit begleiten soll, von der wir uns andere Strukturierungsmöglichkeiten und vor allem auch Anregungen von anderen erhoffen, die wir andererseits als unser eigenes cyberfeministisches Projekt betrachten. Ehe wir sie ins Netz stellen konnten, verging einige Zeit, da wir immer wieder auf technische Schwierigkeiten trafen. Doch stellten wir auch fest, daß es möglich ist, sich an einem Abend die Grundkenntnisse in Html anzueignen.
Theoretisch beschäftigten wir uns also mit den "gesellschaftlichen Realitäten" in Rußland; verloren ging uns dabei ein wenig das Thema "Cyber", was aber in unseren Köpfen erstmal keinen Widerspruch ergab.
Im Mai diskutierten wir unser Exposé mit Frau Schelhowe, die uns vorschlug zu versuchen, in einem Satz auszudrücken, was wir mit unserer Arbeit zeigen wollen. Außerdem lenkte sie unsere Aufmerksamkeit auf Ansätze, die den Mythos des globalen Dorfes oder der globalen Einheit mit sehr konkreten, lokalen Betrachtungen konterkarieren und den Umgang von Frauen mit dem Netz in verschiedenen Ländern untersuchen. Durch das Gespräch mit ihr und auch Gespräche mit FreundInnen wurde uns klar, daß wir unsere Aufgabenstellung besser formulieren müssen und versuchen müssen, die verschiedenen Ebenen wieder zusammenzubringen, eventuell auch Themen streichen. Wir erzählten uns also, was wir bisher erarbeitet hatten, und versuchten, mögliche Wege und Aufgabenstellungen zu durchdenken.
Wie sollen wir das alles zusammenbringen?
So überlegten wir, ob wir nicht doch eine empirische Arbeit machen sollten und den Umgang russischer Frauen mit dem Cyberspace erforschen. Wir schauten uns russische Frauen-Websites unter bestimmten Fragestellungen an. (Wie präsentieren sie sich? Wovon grenzen sie sich ab? Bezeichnen sie sich als feministisch? Reflektieren sie explizit die Wahl des Mediums Internet? Wenden sie sich nur an Frauen? Welches Frauenbild wird transportiert?...) Interessant war bei der Frage nach den Gestalterinnen und ihrer Verortung, daß viele nicht in Rußland leben. So wird die Site der RussianWebGirls von russischen Migrantinnen in den USA hergestellt. Die Herausgeberin der Russian Feminism: Ressources lebt in Australien.

Als weiteren Ansatz erwogen wir, "einfach" zu fragen, inwieweit (russische) cyberfeministische Ansätze Probleme und Ziele der russischen Frauenbewegung spiegeln. Wir stellten feministische und cyberfeministische Themen und Kategorien nebeneinander und kamen (verkürzt) zu der Vermutung, daß bei den Cyberfeministinnen eher postmoderne Themen und Herangehensweisen zu erkennen sind, während die Feministinnen sich an den sehr konkreten "Realitäten" von russischen Frauen abarbeiten. Interessant waren vor allem die Unterschiede im Politikverständnis und die Gegenüberstellung der Begriffe Individualität/Persönlichkeit und Subjekt. In feministischen Texten und Praktiken geht es vor allem um eine gleichberechtigte Partizipation innerhalb demokratischer Strukturen. Irina Aristarkhova hingegen entwickelt ihre Politik eher auf der symbolischen Ebene. Ihr geht es um die weibliche Subjektwerdung - eine Vorstellung, die bei russischen Feministinnen nicht zu finden ist. Hier werden eher, in Abgrenzung zur Sowjetpolitik, die Begriffe der Individualität und Persönlichkeit starkgemacht. Wiederum trafen wir aber auch auf die Schwierigkeit, daß wir zwar sehr viel Material zu russischen Feminismen haben, aber eigentlich zu wenig zu russischen Cyberfeministinnen. Wäre es möglich, den Ort zu erweitern und nicht nur die einzubeziehen, die sich selbst als Cyberfeministinnen bezeichnen, sondern überhaupt russische Frauen im Netz?

Vergeschlechtlichte Räume
Desweiteren überlegten wir noch einmal, wie wir von der Kategorie Raum ausgehen können und eine Verbindung schaffen zwischen den "realen" und "virtuellen" Räumen. Reicht es, davon auszugehen, daß diese Räume vergeschlechtlicht sind und in ihrer Verknüpfung vor allem als symbolische und diskursive Räume sichtbar werden? Reicht es, wenn wir vor allem die gesellschaftlichen Geschlechterdiskurse untersuchen und daraus Vermutungen für den Cyberspace ableiten? Wie können wir den Cyberspace miteinbeziehen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem, was im Cyberspace global diskutiert wird und sich durchsetzt und den lokalen Geschlechterverhältnissen?
Wir kamen auf die Idee, daß wir dem Dilemma des mangelnden Materials zum russischen Cyberspace und Cyberfeminismus dadurch entkommen können, indem wir selber Material schaffen und offene online-Interviews mit russischen Frauen führen, die sich als Cyberfeministinnen bezeichnen oder das Netz für feministische Interessen nutzen. Insofern würden wir unsere Arbeit in einen "theoretischen" Teil und einen Projekt-Teil unterteilen. Wir formulierten unser Konzept neu (siehe Anhang).
Globalisierung
Der Versuch, Globalisierung auf russische Frauen zu beziehen, erwies sich als sehr schwierig. (Jana arbeitete vor allem mit Texten von Brigitte Young, Christa Wichterich und Saskia Sassen und dem "Standardwerk" für das Informationszeitalter und Globalisierung: Castells' "The Information Age".) Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich eher mit dem lateinamerikanischen und südostasiatischen oder dem westeuropäischen Raum. In Bezug auf Rußland bewegen wir uns auf einem eher vagen Gebiet der Übertragungen und Vermutungen, obwohl gewisse Themenkomplexe interessant erscheinen:
> die Unterminierung des fordistischen Familienernährermodells, die einen Bruch mit paternalistischen Traditionen und eine Feminisierung der Beschäftigung bedeutet. Dies ist in Rußland vor allem auch vor dem Hintergrund sowjetischer Familien- und Beschäftigungspolitik zu betrachten.
> Die Neudefinition von Privatheit und Öffentlichkeit, die zu verschiedenen Ökonomien führt (informell, formell, Haushalt), weist Parallelen zu sowjetischen Praktiken auf, vor allem zur offiziellen Verleugnung der Privatheit und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Privaten.
> Die geschlechtsspezifischen Gesellschaftsspaltungen und die zunehmende Ungleichheit unter Frauen wären ein weiterer Ausgangspunkt.

Es bleibt offen, inwieweit der Begriff Globalisierung auf der ökonomischen Ebene einen Rahmen abgeben könnte. Hinzu kommt jedoch auch die "kulturelle Globalisierung". In Bezug auf Frauen und Feminismus bedeutet das, immer in Abhängigkeit von der Zugangsfrage, die Möglichkeit von Austausch und Vernetzung, die Konfrontation mit Ideen und Wissensepistemen, Hybridität. Auch Elitebildung?

Symbolische Räume
Den 3.Teil "Symbolische Räume" kürzten wir auf die Fragen "Welche Räume werden Frauen zugewiesen - im sowjetischen und im postsowjetischen Rußland?" und "Welche Räume beanspruchen sie für sich?". Hier sind die einzelnen Unterpunkte (Grenze Ost-West, Spiritualität, Frauen als das doppelt Andere) eingearbeitet. Dies ist bisher unser stringentester Teil.
Cyberspace als gendered space
Parallel versuchten wir noch einmal - mit Hilfe der cyberfeministischer Texte - zu formulieren, warum wir den Cyberspace als gendered space betrachten:
> Ein Bewegen im Cyberspace setzt Zugang zu Infrastruktur und Wissen voraus. Er ist ein "kolonialisierter Raum" (Faith Wilding) mit bestimmten Zugangsbedingungen für Individuen und Nationen.
> Der Cyberspace ist ein diskursiver Raum, der von Machtverhältnissen durchzogen ist.
> Der Cyberspace funktioniert über die Produktion von Bildern und ist ein Ort des Kampfes um Definitionsmacht.
> Der Cyberspace ist ein "wichtiger Schauplatz des Geschlechterkampfes" (Faith Wilding).
> Im Cyberspace werden unkritisch Dichotomien wie Körper-Geist, Materie-Virtualität fortgeschrieben.
> Er ist mit zahlreichen Institutionen und Systemen der "Außenwelt" verstrickt, die auf der Basis von Geschlechtertrennung und Hierarchie funktionieren.
> Die technologisch-komplexen Territorien sind männlich kodiert.
Warum Rußland?
Eine Diskussion, die ich noch erwähnen möchte, ist die unserer Selbstverortung bzw., konkret, warum wir über Rußland schreiben wollen:
> Wichtig ist für uns die Erweiterung unseres Blicks auf "andere" Feminismen und Cyber-Realitäten. Wir wollen auf jeden Fall ein Spannungsfeld aufmachen zwischen unseren ökonomischen und kulturellen Vorteilen, die aus unserer Stellung und Herkunft und Ethnizität resultieren, und den sich daraus ergebenden Blickwinkeln, und den Blickwinkeln und Ansätzen von Frauen vor einem anderen kulturellen Hintergrund.
> Unser Projekt könnte also den Versuch einer interkulturellen Verständigung darstellen.
> Unser Interesse ist natürlich auch durch bestimmte Fragen bestimmt, die sich aus Freundschaften und Bekanntschaften mit russischen Frauen und auch aus unseren Studien der Slavistik und Osteuropawissenschaften ergeben haben.
> Theoretisch scheinen uns die Konstruktions- und Naturalisierungseffekte, die vor dem Hintergrund einer "Wertekrise" und der Suche nach neuen Legitimationen für das Geschlechterverhältnis gerade in Rußland sichtbar werden, bemerkenswert.

Dies ist - sicher noch immer lückenhaft - der bisherige Stand. (03.07.00)

Andrea

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