*
Magistra im Entstehen
home
New frontier
Am Anfang war die new frontier. Jana war beim Lesen aktueller Texte
russischer Politologen zur Lage in Rußland eine Parallele zu den
Phantasien männlicher Cyberspace-Ideologen vom Cyberspace als new frontier
aufgefallen. Während der Cyberspace als neuer, zu erschließender Raum
imaginiert wird, soll in Rußland der alte Raum ausgestrichen werden,
tabula rasa gemacht werden, um Raum für eine neue Entwicklung zu
eröffnen. Beide Räume werden als ideale Projektionsfläche konstruiert
unter Vernachlässigung dessen, was ich zunächst (in Anschluß an Donna
Haraway) als gesellschaftliche Wirklichkeit, d.h. gelebte soziale
Beziehungen, bezeichnen würde. Ausgangspunkt waren also zwei
Fiktionen: die new frontier und die tabula rasa - und unser Anspruch,
diese an der "die gesellschaftlichen Wirklichkeit" zu
überprüfen, die sich auch als Fiktion und Konstrukt erweisen
wird.
Von "russischem Cyberfeminismus" zu "cyberfeministischen Strategien in
Rußland"
Die Verbindung zu Rußland schien uns gegeben, als wir den ersten Text
Irina Aristarkhovas in der Hand hielten und im Reader der First
Cyberfeminist International weitere Texte von russischen Frauen fanden.
Denn daß Frauen einen anderen Blick auf Cyberspace und die Veränderungen
in Rußland haben, war eine unserer Vorannahmen. Daß es uns um Frauen gehen
sollte, ist wohl vor allem ein Ergebnis unserer eigenen Lebensweise und
Auseinandersetzungen um Feminismen, Gender und Queer Theory.
Ein weiterer Ansatzpunkt war die Frage, wie wir selber uns zum Phänomen
Cyberspace und Neue Technologien verhalten wollen/können, und welche
Möglichkeiten es für eine autonome und feministische Politik gibt.
Als unser Thema formulierten wir zunächst "Cyberfeminismus in
Rußland".
Wir lasen also zunächst die Texte der russischen
Cyberfeministinnen und parallel Texte zu Cyberfeminismus und Cyberspace
überhaupt.
Aus dieser Lektüre ergab sich die Umformulierung des
Themas in "Cyberfeministische Strategien in Rußland", da wir feststellten,
daß es den Cyberfeminismus nicht gibt, und auch keinen russischen, obwohl
uns trotzdem schien, daß bestimmte Spezifika festzustellen sein
müssen.
(Hier bekomme ich Schwierigkeiten mit der Ordnung dieses
Textes, da sich - analog zu unseren Parallellektüren und den
Parallelgesprächen mit FreundInnen - verschiedene Gedankengänge
gleichzeitig entwickelten.)
Einerseits gewannen wir Vorstellungen von den verschiedenen
Praktiken, entdeckten unsere Sympathien für Ansätze, die
Cyberfeminismus "an der Grenze zwischen Innen und Außen des Cyberspace"
ansiedeln (vgl. Ursula Biemann) und den Fokus vor allem auf
Machtverhältnisse richten (Aristarkhova, Faith Wilding). Unsere Gedanken
versuchten wir in Thesen zu formulieren (siehe Küchentisch auf
http://userpage.fu-berlin.de/~brat/cyberfemin.html). Wir stellten also
alle uns bekannten cyberfeministischen Ansätze nebeneinander, hatten aber
auch immer im Blick, daß es uns ja vor allem um die Russinnen geht, und
wir einen vergleichenden Blick eher vermeiden wollen. Wir versuchten, uns
konzentriert mit ihren Texten auseinanderzusetzen (die
Kurzzusammenfassungen sind in unserem Exposé im Anhang nachzulesen). Dabei
mußten wir feststellen, daß, während die Aristarkhova einen weiten Raum
zum Denken eröffnete, wir den anderen eher mit Unverständnis oder auch
Enttäuschung begegneten. Auffällig bei Irina Aktuganova, Alla Mitrofanova
und Olja Ljalina war eine eher enthusiastische Einstellung zum Cyberspace,
die Verbindung des Cyberspace mit künstlerischer Produktion, die
Nichtthematisierung oder Ausblendung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die
scheinbare Nichtthematisierung "feministischer" Politik oder Praktiken,
die Zusammenarbeit mit Männern. Was bei allen auffiel, war die Metapher
des Genusses oder der Freude, des Glückes und Kreativität. Dies waren
Ansatzpunkte, denen wir nachgehen konnten. Andererseits spiegelt unser
Exposé unseren Anspruch, gewisse Komplexe in unsere Arbeit mit
einzubeziehen, auch wenn sie in den russischen Texten nicht auftauchten
(oder nur in ihrer Abwesenheit auftauchten). So erklärten wir zu unseren
Hauptkategorien Geschlecht, Körper, Arbeit und Politik und griffen auf
unsere Ausgangskategorie Raum zurück, mit der wir die anderen vier
verweben wollten.
So entstand unser Exposé (siehe Anhang) und eine vorläufige
Schwerpunktsetzung.
Der Verlust des Wörtchens "Cyber"
Jana arbeitete an den Komplexen Frauen und Arbeit und Frauen und Technik
in Rußland. Andrea bescäftigte sich mit der russischen Frauenbewegung und
dem Thema russischer Feminismus.
Doch zuvor entwickelten wir die ersten Vorstellungen für
unsere Homepage, die einerseits unsere Arbeit begleiten soll, von der wir
uns andere Strukturierungsmöglichkeiten und vor allem auch Anregungen von
anderen erhoffen, die wir andererseits als unser eigenes
cyberfeministisches Projekt betrachten. Ehe wir sie ins Netz stellen
konnten, verging einige Zeit, da wir immer wieder auf technische
Schwierigkeiten trafen. Doch stellten wir auch fest, daß es möglich ist,
sich an einem Abend die Grundkenntnisse in Html anzueignen.
Theoretisch beschäftigten wir uns also mit den
"gesellschaftlichen Realitäten" in Rußland; verloren ging uns dabei ein
wenig das Thema "Cyber", was aber in unseren Köpfen erstmal keinen
Widerspruch ergab.
Im Mai diskutierten wir unser Exposé mit Frau Schelhowe, die
uns vorschlug zu versuchen, in einem Satz auszudrücken, was wir mit
unserer Arbeit zeigen wollen. Außerdem lenkte sie unsere Aufmerksamkeit
auf Ansätze, die den Mythos des globalen Dorfes oder der globalen Einheit
mit sehr konkreten, lokalen Betrachtungen konterkarieren und den Umgang
von Frauen mit dem Netz in verschiedenen Ländern untersuchen. Durch das
Gespräch mit ihr und auch Gespräche mit FreundInnen wurde uns klar, daß
wir unsere Aufgabenstellung besser formulieren müssen und versuchen
müssen, die verschiedenen Ebenen wieder zusammenzubringen, eventuell
auch Themen streichen. Wir erzählten uns also, was wir bisher erarbeitet
hatten, und versuchten, mögliche Wege und Aufgabenstellungen zu
durchdenken.
Wie sollen wir das alles zusammenbringen?
So überlegten wir, ob wir nicht doch eine empirische Arbeit machen
sollten und den Umgang russischer Frauen mit dem Cyberspace erforschen.
Wir schauten uns russische Frauen-Websites unter bestimmten
Fragestellungen an. (Wie präsentieren sie sich? Wovon grenzen sie sich ab?
Bezeichnen sie sich als feministisch? Reflektieren sie explizit die Wahl
des Mediums Internet? Wenden sie sich nur an Frauen? Welches Frauenbild
wird transportiert?...) Interessant war bei der Frage nach den
Gestalterinnen und ihrer Verortung, daß viele nicht in Rußland leben. So
wird die Site der RussianWebGirls von russischen Migrantinnen in den USA
hergestellt. Die Herausgeberin der Russian Feminism: Ressources lebt in
Australien.
Als weiteren Ansatz erwogen wir, "einfach" zu fragen, inwieweit
(russische) cyberfeministische Ansätze Probleme und Ziele der russischen
Frauenbewegung spiegeln. Wir stellten feministische und cyberfeministische
Themen und Kategorien nebeneinander und kamen (verkürzt) zu der
Vermutung, daß bei den Cyberfeministinnen eher postmoderne Themen und
Herangehensweisen zu erkennen sind, während die Feministinnen sich an den
sehr konkreten "Realitäten" von russischen Frauen abarbeiten. Interessant
waren vor allem die Unterschiede im Politikverständnis und die
Gegenüberstellung der Begriffe Individualität/Persönlichkeit und
Subjekt. In feministischen Texten und Praktiken geht es vor allem um eine
gleichberechtigte Partizipation innerhalb demokratischer Strukturen. Irina
Aristarkhova hingegen entwickelt ihre Politik eher auf der symbolischen
Ebene. Ihr geht es um die weibliche Subjektwerdung - eine Vorstellung, die
bei russischen Feministinnen nicht zu finden ist. Hier werden eher, in
Abgrenzung zur Sowjetpolitik, die Begriffe der Individualität und
Persönlichkeit starkgemacht. Wiederum trafen wir aber auch auf die
Schwierigkeit, daß wir zwar sehr viel Material zu russischen Feminismen
haben, aber eigentlich zu wenig zu russischen Cyberfeministinnen. Wäre es
möglich, den Ort zu erweitern und nicht nur die einzubeziehen, die sich
selbst als Cyberfeministinnen bezeichnen, sondern überhaupt russische
Frauen im Netz?
Vergeschlechtlichte Räume
Desweiteren überlegten wir noch einmal, wie wir von der Kategorie
Raum ausgehen können und eine Verbindung schaffen zwischen den "realen"
und "virtuellen" Räumen. Reicht es, davon auszugehen, daß diese Räume
vergeschlechtlicht sind und in ihrer Verknüpfung vor allem als
symbolische und diskursive Räume sichtbar werden? Reicht es, wenn wir vor
allem die gesellschaftlichen Geschlechterdiskurse untersuchen und daraus
Vermutungen für den Cyberspace ableiten? Wie können wir den
Cyberspace miteinbeziehen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem, was im
Cyberspace global diskutiert wird und sich durchsetzt und den lokalen
Geschlechterverhältnissen?
Wir kamen auf die Idee, daß wir dem Dilemma des mangelnden
Materials zum russischen Cyberspace und Cyberfeminismus dadurch entkommen
können, indem wir selber Material schaffen und offene online-Interviews
mit russischen Frauen führen, die sich als Cyberfeministinnen
bezeichnen oder das Netz für feministische Interessen nutzen.
Insofern würden wir unsere Arbeit in einen "theoretischen" Teil und
einen Projekt-Teil unterteilen. Wir formulierten unser Konzept neu (siehe
Anhang).
Globalisierung
Der Versuch, Globalisierung auf russische Frauen zu beziehen, erwies sich
als sehr schwierig. (Jana arbeitete vor allem mit Texten von Brigitte
Young, Christa Wichterich und Saskia Sassen und dem "Standardwerk"
für das Informationszeitalter und Globalisierung: Castells' "The
Information Age".) Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich eher mit
dem lateinamerikanischen und südostasiatischen oder dem
westeuropäischen Raum. In Bezug auf Rußland bewegen wir uns auf einem eher
vagen Gebiet der Übertragungen und Vermutungen, obwohl gewisse
Themenkomplexe interessant erscheinen:
> die Unterminierung des fordistischen Familienernährermodells,
die einen Bruch mit paternalistischen Traditionen und eine Feminisierung
der Beschäftigung bedeutet. Dies ist in Rußland vor allem auch vor dem
Hintergrund sowjetischer Familien- und Beschäftigungspolitik zu betrachten.
> Die Neudefinition von Privatheit und Öffentlichkeit, die zu
verschiedenen Ökonomien führt (informell, formell, Haushalt), weist
Parallelen zu sowjetischen Praktiken auf, vor allem zur offiziellen
Verleugnung der Privatheit und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung
im Privaten.
> Die geschlechtsspezifischen Gesellschaftsspaltungen und die
zunehmende Ungleichheit unter Frauen wären ein weiterer Ausgangspunkt.
Es bleibt offen, inwieweit der Begriff Globalisierung auf der ökonomischen
Ebene einen Rahmen abgeben könnte. Hinzu kommt jedoch auch die "kulturelle
Globalisierung". In Bezug auf Frauen und Feminismus bedeutet das, immer in
Abhängigkeit von der Zugangsfrage, die Möglichkeit von Austausch und
Vernetzung, die Konfrontation mit Ideen und Wissensepistemen, Hybridität.
Auch Elitebildung?
Symbolische Räume
Den 3.Teil "Symbolische Räume" kürzten wir auf die Fragen "Welche
Räume werden Frauen zugewiesen - im sowjetischen und im postsowjetischen
Rußland?" und "Welche Räume beanspruchen sie für sich?". Hier sind
die einzelnen Unterpunkte (Grenze Ost-West, Spiritualität, Frauen als das
doppelt Andere) eingearbeitet. Dies ist bisher unser stringentester Teil.
Cyberspace als gendered space
Parallel versuchten wir noch einmal - mit Hilfe der cyberfeministischer
Texte - zu formulieren, warum wir den Cyberspace als gendered space
betrachten:
> Ein Bewegen im Cyberspace setzt Zugang zu Infrastruktur und
Wissen voraus.
Er ist ein "kolonialisierter Raum" (Faith Wilding) mit bestimmten
Zugangsbedingungen für Individuen und Nationen.
> Der Cyberspace ist ein diskursiver Raum, der von
Machtverhältnissen durchzogen ist.
> Der Cyberspace funktioniert über die Produktion von
Bildern und ist ein Ort des Kampfes um Definitionsmacht.
> Der Cyberspace ist ein "wichtiger Schauplatz des
Geschlechterkampfes" (Faith Wilding).
> Im Cyberspace werden unkritisch Dichotomien wie Körper-Geist,
Materie-Virtualität fortgeschrieben.
> Er ist mit zahlreichen Institutionen und Systemen der
"Außenwelt" verstrickt, die auf der Basis von Geschlechtertrennung und
Hierarchie funktionieren.
> Die technologisch-komplexen Territorien sind männlich kodiert.
Warum Rußland?
Eine Diskussion, die ich noch erwähnen möchte, ist die unserer
Selbstverortung bzw., konkret, warum wir über Rußland schreiben
wollen:
> Wichtig ist für uns die Erweiterung unseres Blicks auf
"andere" Feminismen und Cyber-Realitäten. Wir wollen auf jeden Fall ein
Spannungsfeld aufmachen zwischen unseren ökonomischen und kulturellen
Vorteilen, die aus unserer Stellung und Herkunft und Ethnizität
resultieren, und den sich daraus ergebenden Blickwinkeln, und den
Blickwinkeln und Ansätzen von Frauen vor einem anderen kulturellen
Hintergrund.
> Unser Projekt könnte also den Versuch einer interkulturellen
Verständigung darstellen.
> Unser Interesse ist natürlich auch durch bestimmte
Fragen bestimmt, die sich aus Freundschaften und Bekanntschaften mit
russischen Frauen und auch aus unseren Studien der Slavistik und
Osteuropawissenschaften ergeben haben.
> Theoretisch scheinen uns die Konstruktions- und
Naturalisierungseffekte, die vor dem Hintergrund einer "Wertekrise" und
der Suche nach neuen Legitimationen für das Geschlechterverhältnis
gerade in Rußland sichtbar werden, bemerkenswert.
Dies ist - sicher noch immer lückenhaft - der bisherige Stand.
(03.07.00)
Andrea
zurueck nach oben